Die Geburt

In einer Zeit als die Menschen ihre Wünsche in die Welt singen konnten, lebten zufrieden in einem kleinen Häuschen mitten auf einer Lichtung in einem Bergwald eine Grossmutter und ihre Enkelin. 

Das Mädchen war befreundet mit den Wesen des Waldes. Seine Freunde waren die Tiere, die Zwerge, die Elfen und Baumgeister. Immer wenn sie sich draussen aufhielt, fühlte sie sich nie allein. Deshalb war sie so oft draussen wie möglich. 

Das Mädchen konnte mit den Tieren sprechen. Ihr bester Freund war ein weisser Wolf. Er kam manchmal zu Besuch und bekam von der Grossmutter etwas Leckeres zu fressen.

Als er wieder einmal abends vor der Hütte, zusammen mit der Grossmutter und dem Mädchen den Sonnuntergang betrachtete, meinte er: 

«Heute habe ich etwas Seltsames gefunden im Wald. Es ist sehr gross. Fast so gross, wie dein Häuschen und sieht aus wie ein Ei. Ich kann mir nicht erklären, was das sein soll. « 

Das Mädchen antwortete, dass sie sich das gerne anschauen würde, am nächsten Tag. Die Grossmutter schwieg, wie so häufig. Also ging sie tags darauf dorthin, wo weisser Wolf sie hinführte. Es war tatsächlich ein riesengrosses Ei, welches rosafarben schimmerte. Das Mädchen ging drumherum und klopfte daran, aber nichts schien sich zu rühren. 

«Wer könnte nur wissen, was das ist und woher es kommt?», wunderte sich das Mädchen. Weisser Wolf hatte keine Ahnung.  „Hallo, ist da jemand?» rief das kleine Mädchen laut. Aus dem Ei kam keine Antwort. 

Auf einmal, begann ganz nah neben dem grossen Ei, eine violette Blume zu wachsen. Die zwei konnten ihr beim Wachsen zusehen und sie wunderten sich, was das wohl für Zauberzeugs sei. Die Blume schlug ihre Augen auf und wisperte:

»Kann ich euch helfen?» 
«Ja, wir möchten wissen, was das für ein Ding ist», sagte das Mädchen. 

Die Blume begann zu kichern und wurde ganz rot. 

«Das ist ein Ei, wie doch jeder sehen kann», meinte sie dann. 
«Aber so ein grosses Ei haben wir noch nie gesehen», brummte weisser Wolf.  

«Es ist ein spezielles Ei und kommt von den Sternenwelten», antwortete die Blume. «Ich bin eine Blume aus den Sternenwelten, daher weiss ich es. Dies hier ist ein Drachen-Ei. Es wird so lange ruhen, bis der Zeitpunkt gekommen ist, seine Zauberkraft zu wecken. Das kann lange dauern. Es wird eine Zeit kommen, in der die Menschen die Erde fast zerstören. Der Himmel wird schmutzig sein, die Berge werden ins Rutschen kommen, die Flüsse werden Überschwemmungen anrichten und riesige Brände werden die Wälder zerstören. Die Menschen werden keine Wünsche mehr in die Welt singen können und ihre Zeit an kleinen viereckigen Geräten verbringen. Es werden Wesen aus allen Sternenwelten gesucht werden, um die Erde und ihre Schönheit zu retten. Viele werden sich in Menschenform verkleiden. Diese Wesen werden an bestimmte Orte gerufen werden. Dort werden sie die Drachen, Engel und Einhörner herbeirufen, damit die Erde und die Menschen wieder in ihren Ursprung und in ihr Gleichgewicht versetzt werden. Das ist alles. Ich habe meine Botschaft überbracht und meine Bestimmung erfüllt. Ich muss nun vergehen.» 

Die Blume sank in sich zusammen und bald war nichts mehr von ihr zu sehen. Das Mädchen und weisser Wolf schauten sich erstaunt an. Drachen gab es doch nicht wirklich, oder doch? Was hatte die Blume gemeint mit einer schlimmen Zeit, die einmal kommen würde? Wie sollte man ein Drachen-Ei zum Leben erwecken? 

Weisser Wolf und das kleine Mädchen gingen zurück zum Häuschen der Grossmutter. Sie erzählten ihr von dem Erlebten. Grossmutter blieb still. Am Abend spät erzählte sie, dass genau hier seit vielen Jahren ein grosser Drache lebe. Er sei in den Bergen versteckt, helfe aber immer, wenn man ihn um seine Unterstützung bäte.

Die Jahre vergingen und das Mädchen wurde eine schöne Frau, hatte selbst Kinder und wurde schliesslich Grossmutter. Das Ei hatte sie vergessen. Weisser Wolf war auch nicht mehr da. Das Sprechen mit den Baumgeistern und Zwergen war ihr mit den Jahren abhandengekommen. Doch je älter sie wurde, desto näher kam sie der Natur wieder.

Eines Abends klopfte schwarzer Bär an ihre Türe. Er erinnerte sie an das grosse Ei und meinte, es sei nun Zeit, bevor sie zu den Sternen zurückkehre, das Ei gut zu versorgen, damit es die Zeit überdauere. Das kleine Mädchen, welches jetzt eine Grossmutter war, dachte nach. Sie kam zum Schluss, dass es am besten wäre, wenn sie das Ei vergraben würde. Sie würde einen hohen Hügel darum bauen, damit das Ei sicher zugedeckt sei. Falls die Zeit tatsächlich kommen würde, von der die Blume berichtet hatte, könnten die Menschen dem Drachenbaby helfen, herauszukommen. Das kleine Mädchen, welches jetzt eine Grossmutter war, bat ihren Schwiegersohn und andere starke Menschen aus dem Dorf, einen grossen Hügel um das Drachen-Ei zu errichten. Dies wurde getan. Als das kleine Mädchen, welches jetzt eine Grossmutter war, gestorben war, geriet das Drachen-Ei in Vergessenheit. 

Einzig der Hügel um das Drachen – Ei herum, der aussah, wie eine Pyramide, verwunderte die Menschen, die daran vorbei spazierten. Sie konnten sich nicht erklären, warum hier mitten in den Bergen im Wald eine Pyramide stehen sollte. Aber niemand nahm sich die Zeit, genauer nachzuforschen.

Die Jahrhunderte vergingen. Auf einmal war es so weit, wie die Blume prophezeit hatte. Die Menschen hatten verlernt ihre Wünsche in die Welt zu singen. Sie jagten dem Geld hinterher, waren in Eile und konnten die Sterne nicht mehr singen hören. Die meisten Menschen konnten nicht mehr mit den Tieren und Pflanzen reden und auch sonst hatten sie viel von ihrer Freude verloren. 
Die Erde schien sich aufzulösen. Die Menschen hatten Angst, dass sie bald nicht mehr auf der Erde leben könnten. Es gab Überschwemmungen, riesige Feuer, die Wälder zerstörten und es wurde immer heisser.

Die Pyramide mit dem versteckten Drachen – Ei war immer noch da. Da passierte es, dass eine Frau zu der Pyramide gerufen wurde. Ohne genau zu wissen warum, hatte sie ihr altes Leben aufgegeben und war in die Nähe der Pyramide gezogen. Oft schon war sie da vorbei spaziert und hatte ihre Krafttiere in die Gegend gelotst: Adler, Büffel, Specht, weisser Wolf und auch eine Robbe waren dabei. Sie sang Lieder, entzündete Feuer und sprang drum herum, verband sich mit den Wassergeistern, den Quellen und dem unendlichen Sternenhimmel, der in diesem Tal besonders klar leuchtete. Sie war immer wieder bereit, Altes loszulassen. Immer wieder. So versuchte sie dem Geheimnis des Wünsche-in-die Welt-Singens näher zu kommen.

Als sie wieder einmal bei der Pyramide war und sich wunderte, was es mit deren Kraft auf sich hatte, begann diese zu beben. Sie sprang in zwei Hälften. Das versteckte rosarote Ei war ebenfalls zersprungen und ein kleines dunkelblaues Babydrächlein grinste sie an. Als gleich hörte sie den Berg grollen. Der versteckte Drache, von welchem die Grossmutter einst berichtet hatte, wollte mit dem Grollen das neue Babydrächlein begrüssen. 

Die Frau war unglaublich entzückt und wusste nicht so recht, was mit dem Babydrachen anzufangen wäre. Sie wusste, sie konnte den Babydrachen unmöglich zu sich nach Hause nehmen, aber ein Mama-oder Papadrache war nirgends in Sicht. Ihr Herz begann jedoch zu singen und plötzlich konnte sie die Sterne hören, die in ihren Gesang einstimmten. 

Da begann der grollende Berg zu sprechen: «Ich bin der Hüter dieses Dracheneis und du bist die Geburtshelferin, die ihm geholfen hat zu schlüpfen. Du bist von weit weg hergekommen und ich danke dir dafür. Dieses Drachenbaby ist Teil der neuen Erde. Wenn du ihm heute an seinem Geburtstag sein Geburtslied singst, kann es bald fliegen lernen und seiner Bestimmung entgegen reisen. Dank deinem Lied und deinem Segen, weiss das Drachenbaby, dass es bei dir immer ein Zuhause hat.

Du bist aufgerufen, mit mir zusammen den Ort hier heilig zu halten und zu einer Lichtoase werden zu lassen. Auf der ganzen Erde entstehen solche Lichtpunkte. Hier ist einer davon. Dein Drachenbaby wird fliegen und stets wieder zu dir zurückkommen.»

Also begann die Frau ein Zaubersegenslied für das Drachenbaby zu singen. Sie wob es ein mit ihren besten Wünschen der Liebe, des Lichts und des ewigen Lebens. Als sie fertig war, erschienen ein grosser goldener Engel und ein weisses Einhorn mit einem regenbogenfarbenen Horn. 

Diese sprachen ihren Segen über die Frau, das Drachenbaby und das ganze Tal. Als dann flog der Babydrache mit dem Engel und dem Einhorn davon, um seine Bestimmung zu erfüllen.

Der Drache im Berg und die weise Frauen schmunzelten. Sie freuten sich, dass sie bei der Geburt der neuen Erde dabei gewesen waren. Sie wusste jetzt, wie sie ihre Wünsche in die Welt singen konnte und wollte es nie mehr verlernen.